Gerda Lampalzer

 

In:
Faßler Manfred (Hrsg.):
Ohne Spiegel leben
Sichtbarkeiten und posthumane Menschenbilder,
Wilhelm Fink Verlag München 2000

Die Kamera als Zeugin

Die Kamera als Zeugin

Drei Möglichkeiten einen Meineid zu leisten

Ich möchte hier über Wirklichkeit und Wirklichkeitskonstruktion im Dokumentarfilm/video sprechen. Und zwar vor allem deshalb, weil er gemeinhin als (letzte) Bastion einer direkten Übertragung von Realität auf ein Medium gehandelt wird, auch wenn diese Annahme in der Filmtheorie immer wieder relativiert wird. Was hat es nun mit diesem Verhältnis auf sich? Dokumentarfilm wird meistens in Opposition zum Spiel- oder Fictionfilm definiert und dies wird vor allem an Begriffen wie Abbildung von Wirklichkeit, Authentizität, Lebenswelt, reale Personen etc. im Gegensatz zur Inszenierung festgemacht. Doch schon der viel strapazierte Satz: „Könnten Sie das bitte für die Kamera wiederholen?“ macht klar, dass im Dokumentarfilm auch inszeniert wird, sei es nun mit Vorbedacht oder im Sinn der medientheoretischen Binsenweisheit, dass mit der Wahl des Drehortes, des Kamerastandpunktes, Bildausschnitts, der Lichtsituation usw. immer „in Szene gesetzt“ wird. Wo sich am ehesten so etwas wie ein Unterschied festmachen ließe, wäre in der Arbeitsweise. Dokumentarfilm stützt sich beim Drehen auf kein detailliertes Drehbuch, sondern höchstens auf einen Drehplan, meist aber auf ein Treatment, das so viel Platz wie möglich für Unvorhergesehenes oder erst beim Drehen Recherchiertes lässt. Zum Teil ergeben sich Schauplätze erst im Laufe des Projekts, bei prozessorientierten Konzepten oder Interviewfilmen ist oft überhaupt nicht klar, was an Aufnahmen genau vorhanden sein wird. Nun ist es aber so, dass es prozesshaftes Arbeiten auch im Fictionfilm gibt, und dass – nimmt man es filmtheoretisch genau – Film und Video in ihrer Eigenschaft als Medien Wirklichkeit  immer irrealisieren. Um dieser Spirale der Relativierungen zu entkommen, muss die Frage nach dem Wirklichkeitsbezug von dokumentarischem Film und Video auf einer anderen Ebene, nämlich nicht nur auf Seiten der Produktion sondern auch auf Seiten der Rezeption gestellt werden. Angelehnt an eine Reihe von Autoren gehe ich davon aus, dass es eine dokumentarisierende und eine fiktivisierende Lektüre durch die Zuschauerin, den Zuschauer gibt. Stellt man diesen Gedanken an die Spitze der Überlegungen, so ergibt sich ein praktikableres Modell einer Strukturanalyse des Dokumentarischen.

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Der französische Filmtheoretiker Roger Odin unterscheidet hier zwischen der „Konstruktion eines als real präsupponierten Enunziators“ in der dokumentarisierenden Lektüre und der „Weigerung der Konstruktion eines ‘Ursprungs-Ichs’ durch den Leser“ in der fiktivisierenden Lektüre (unabhängig davon ob eine Fiktion in der Ich-form erzählt wird oder nicht). (1) Daraus resultiert aber zunächst auch, dass alles in einem Film als „realer Enunziator“ funktionieren kann, also beispielsweise die Kamera (physikalisch), das Kino (semiologisch), die Gesellschaft (politisch), der Regisseur (psychologisch) usw. Inhalt bzw. Gegenstand eines Dokuments werden kann. Um hinter dieser neuerlichen Verallgemeinerung ein Genre Dokumentarfilm/video ausmachen zu können, bedarf es also einer expliziten Anweisung zur dokumentarisierenden Lektüre in der Struktur des Films selbst. Dazu gibt es verschiedene Möglichkeiten: Etwa bereits durch den Vorspann (Fehlen der Schauspielernamen, wissenschaftliche Institution als Herausgeber, Texte wie: eine Reportage von…) oder durch den kommunikativen Akt (Auftritt von Spezialisten, direkte Anrede des Publikums, Kommentar) oder den filmischen Stil (Stegreifkamera, O-Ton, Bezugnahme der Gefilmten auf die Kamera) usw. Zusammengefasst handelt es sich nach Odin bei jedem Lektüreakt um eine Operation mit drei Voraussetzungen:

„- einem Film, der – mehr oder weniger inständig, mehr oder weniger explizit – verlangt, gemäß eines so oder so beschaffenen Lektüremodus gelesen zu werden;

– eine Institution, die auf eine mehr oder weniger zwingende Weise einen so oder so beschaffenen Lektüremodus programmiert;

– und einen Leser, der auf seine Weise auf die Aufforderungen und die Anweisungen der beiden anderen Instanzen reagiert.“ (2)

Eine weitere Metapher, die im Zusammenhang mit Film und Video gerne verwendet wird, ist die der Leinwand/des Monitors als Spiegel. Besonders für die frühe Videokunst war dieses Bild theoretische Nahrung für die Benennung einer spezifischen Videoästhetik (hauptsächlich in der Verbindung von Videoperformance und Selbsterfahrung/Selbsterkenntnis, Selbstportrait, aber auch Emanzipation vom Kameraoperateur oder Überwindung der technischen Zwänge einer zeitverzögerten Filmentwicklung). Im dokumentarischen Bereich wirkt diese Spiegelmetaphorik noch dazu inhaltlich als Verstärkung der These vom Dokumentarfilm als Spiegel der Realität. Unabhängig von dem bereits angesprochenen problematischen Verhältnis von Film und Realität ist diese Spiegelmetaphorik aber zunächst einfach optisch falsch. Da das Film/Videobild nicht seitenverkehrt projiziert wird, sieht man sich auf der Leinwand/im Monitor so, wie man von anderen gesehen wird, bei einem Spiegel ist das nicht der Fall. Das Bild wird bei der Aufnahme vom Objektiv seitenverkehrt und auf den Kopf gestellt, d.h. das Filmbild ist bei der Projektion bereits zweimal gedreht worden, beim Video noch dazu in elektronische Signale und wieder zurückverwandelt worden, und dies hat wenig mit Spiegelung zu tun. Man könnte noch versuchen  – wieder metaphorisch -, von einem halb durchlässigen Spiegel auszugehen, da hinter der Kamera  immer jemand steht, der von den Zuschauern nicht gesehen wird. Das käme der Sache, dass Film eine kontrollierte Angelegenheit ist, schon näher. Aber gerade die rein phänomenologischen Details der Bilderzeugung durch Spiegel oder Film/Video (die, könnte man meinen, bei einer Metapher ja  nicht so eng zu sehen wären) verdeutlichen die wichtigste Differenz zwischen Spiegel und Medium: nämlich, dass ein Spiegel sein reales Gegenüber einfach reflektiert, Film/Video Realität aber (nach)konstruiert, d.h. einer Verwandlung unterzieht. Dieses Element der Metamorphose, des Durchgangs durch eine technisch/gestalterische Apparatur unterstützt m. E. eine andere Metapher für das Verhältnis Medium – Wirklichkeit, nämlich die der Zeugenschaft. Zeugen sind – ob sie es wollen oder nicht – Filter. Hier scheinen mir Eigenschaften konnotiert, die ein viel fruchtbareres Instrumentarium zur operativen Übertragung auf Funktionsweisen und Möglichkeiten der Wirklichkeitskonstruktion durch Dokumentarfilm und -video bereitstellen. Zum Beispiel:

– Bei der Zeugenschaft handelt es sich um einen Akt der Anwesenheit (unabhängig wie lang oder wie kontinuierlich)

– Zeuginnen/Zeugen haben eine aktive Rolle im Geschehen (Aufmerksamkeit, Blickrichtung, Situationserfassung, Interesse, Kombinationsfähigkeit, usw.)

– Zeuginnen/Zeugen stehen für die physische Realität eines Geschehens (Augenzeugen, Ohrenzeugen)

– Zeuginnen/Zeugen können durch Irrtum verfälschen (andere Perspektive, optische Täuschung,  Fehleinschätzung, Beeinflussung, mangelndes Erinnerungsvermögen, usw.)

– Zeugen können lügen (aus Überzeugung, aus Sympathie, aus böser Absicht, aus Angst, zu ihrem Vorteil, usw.)

– Zeugen stehen im Dienste einer Sache (des Ideals der Wahrheit, der Politik, des Verbrechens, der eigenen Überzeugung, der Moral, usw.)

Geleitet von diesen beiden gedanklichen Ausgangspunkten, nämlich Lektüremodus des Zusehers/der Zuseherin und Zeugenschaft als Funktion von dokumentarischen Absichten möchte ich nun drei Film/Video Beispiele vorstellen, die in einer Gratwanderung die Ränder dokumentarischer Wirklichkeit (bzw. ihrer Konstruktion) abstecken. Als „Sonderformen“  stellen sie die Frage nach der Abbildung von Realität im Medium explizit in ihrer Gestaltung und führen damit vor, wie Genregrenzen und damit verbunden konventionalisierte Vorstellungen verschoben oder verändert werden können.

Das erste Beispiel ist aus dem Film „Lubitsch Junior“ (eine Produktion des Film/Videokollektivs „die thede“, Hamburg 1990)

Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein Dokumentarfilmteam gerät im Zuge seiner Recherche über deutsches Fronttheater im 2. Weltkrieg an einen Herren, der von sich behauptet: a. der Sohn von Ernst Lubitsch zu sein, b. das Drehbuch zu Lubitschs Film „Sein oder nicht Sein“ verfasst zu haben, c. in der antifaschistischen Liga eine wesentliche Rolle gespielt zu haben, und d. als Doppelagent hüben und drüben Bravourstücke geleistet zu haben. In der Überprüfung dieser Behauptungen treten immer wieder Ungereimtheiten auf und der Film dokumentiert die Suche nach Wahrheit und Lüge in den Aussagen dieses schillernden „Zeitzeugen“. Wir sehen hier das Ende des Films, in dem „Lubitsch Junior“, Herr Mayer in Warschau noch einmal zu seiner Rolle im Widerstand befragt wird. Als Epilog führen uns Künstlerinnen und Künstler  aus dem ehemaligen Fronttheater ihre Fähigkeiten vor.

Wie man im Abspann sieht, werden hier plötzlich Darsteller und Darstellerinnen genannt. Dies führt uns direkt hinein in das Verwirrspiel, das dieses Filmprojekt zunächst mit seinen Autoren und in weiterer Folge mit seinen Zuschauern treibt. Der Beginn und die ganze Gestaltung des Films folgt genau den Regeln, die den Zuschauern eine dokumentarisierende Lektüre nahe legen, inclusive wiederkehrender Auftritte des Filmteams, eines Kommentars, Verwendung von „Originalfilmteilen“ und Interviews mit „Experten“. In Wirklichkeit ist der Film aber durchgehend nach einem genauen Drehbuch inszeniert, also der Dokumentarfilm selbst ein Fake. Dies aber wiederum nicht als genrebezogener Manierismus, sondern aus inhaltlichen Gründen: Die Geschichte folgt einer wahren Begebenheit, nämlich dem Auftauchen eines Herrn, der den Autoren die verfilmten Geschichten wirklich erzählt hat. Die Folge war der Plan zu einem Dokumentarfilmprojekt über diesen „idealen Zeitzeugen“, der den Traum dieses an antifaschistischen Themen besonders interessierte Filmteams verkörperte. Im Anfangsstadium dieses Projektes verstarb diese Hauptperson jedoch unerwartet und zurück blieb eine Sammlung unglaublicher Geschichten und der berechtigte Zweifel über ihren Wahrheitsgehalt. Daraus entstand dann das Drehbuch, in dem die inszenierten Teile dokumentarisch wirken und die dokumentarischen (die Auftritte der alten Fronttheaterleute) inszeniert. Thematisiert wird – neben dem eigentlichen Sujet, der Geschichte(n) von Lubitsch Junior“ – dabei zweierlei:

  1. Anspruch und moralische Selbstdefinition des zeitgeschichtlichen Dokumentarfilms. Dabei speziell die sowohl bei den Autoren als auch beim Publikum weit verbreitete Projektion des Wunsches nach aufklärender Wahrheit in die befragten Zeitzeugen. Damit verbunden die Demonstration der Relativität einer Zeugenschaft durch den Film selbst, der hier von Verfälschung bis Lüge im Dienste der Sache betreibt.
  2. das Thema der Maskerade als konstitutiver Bestandteil jeder medialen Vermittlung. Angelehnt an die lebensrettende Verschleierung von Spiel und Wirklichkeit im zitierten Film „Sein oder nicht Sein“ werden auch im Film das Spiel mit der Wahrheit und das Spiel mit der Fiktion vertauscht und damit eine Aussage über das vermittelnde Wesen des Mediums getroffen.

Das zweite Beispiel ist aus dem Film „Paranormal“ (Gerda Lampalzer/Manfred Oppermann, Wien 1997)

Dieser Film beschäftigt sich mit der medialen Umsetzung von paranormalen Phänomenen, also mit Tonbandstimmenforschung, Geisterfotografie, Transvideo, Telekinese vor der Kamera usw. Dabei werden Demonstrationen und Expertengespräche mit Eigenversuchen der Autorin und des Autors zu einer persönlichen Suche nach überzeugenden Ergebnissen verknüpft. Das spezielle Interesse dabei: Die operative Verwendung von Gerätschaften und Technik und ihre damit verbundene Umcodierung in „paranormale Medien“. Der hier gezeigte Ausschnitt führt uns von einem Interview mit einem kirchlichen Experten für das Unerklärliche über eine inszenierte Geisterfotosession zu einem Eigenversuch als filmische Performance. Die Aussage des Paters über den geringen Prozentsatz an echten Phänomenen gegenüber einer Unzahl von Fälschungen geht über in eine fiktive Szene. In ihr wird eine kleine filmische Erzählung entwickelt, wie gefälschte Geisterfotografien entstanden sein könnten. Sie ist historischen Fotos von Erscheinungen und Berichten über Fälschungen nachempfunden und kommentiert ihrerseits wieder die Feststellungen des Experten. Die Filmemacher fungieren hier sowohl als Erzähler als auch als Kommentatoren, also auf der Grenze zwischen Tatsachenbericht und Fiktion. Im darauf folgenden Eigenversuch wird diese Doppelrolle noch deutlicher. Wieder gibt der Experte den inhaltlichen Rahmen vor, nämlich die psychologischen Aspekte paranormalen Verhaltens und deren Rezeption. Im Bild sieht man den Filmemacher beim Versuch, mit Alltagsgegenständen physikalische Gesetze zu hinterfragen, für die Kamera inszeniert aber auch als genuiner Untersuchungsakt durchgeführt.

In diesem Film stellt sich die Frage nach dem Realitätsbezug also weniger auf der Ebene der historischen oder moralischen Wahrheit, sondern vielmehr auf der Ebene, ob und wo sich nun der „reale Enuntiator“ befindet. Durch den Rollenwechsel der Autoren von Dokumentarfilmer/ Dokumentarfilmerin zu den Hauptrollen in ihrer persönlichen Versuchs- und Irrtumsgeschichte entsteht eine Mischform, die den Film in einen der Frage nach Wahrheit nicht mehr zugänglichen Schwebezustand versetzt. Dieser scheinbar unentschiedene Standpunkt entspricht genau der Situation, mit der die Filmemacher konfrontiert waren, als sie dem Wahrheitsgehalt paranormaler Phänomene auf die Spur kommen wollten. Da es sich um eine Glaubenssache handelt, gibt es keinen verbindlichen Bezugspunkt, von dem aus der Realitätsgehalt gemessen werden kann. Jeder kann dabei sein, es gibt auch Interessantes zu sehen, aber nur Überzeugte werden das Paranormale am Geschehen bezeugen. Der Dokumentarfilm kommt hier an seine Grenze, da er sich mit der Rekonstruktion einer Wirklichkeit herumschlägt, die schon im Vorfilmischen nicht fassbar ist. Der künstlerische Ausweg ist hier die Demonstration einer teilweise nur ausgedachten aber plausibel möglichen Wirklichkeit, die mit der Beobachtung und Anhörung von „Zeugen“ paranormaler Geschehnisse kombiniert wird. Motivation für den Film ist also ein emphatisches Interesse für sein Thema und daraus folgernd gerade nicht der Anspruch einen nachvollziehbaren Bezug zur Realität herzustellen.

Das dritte Beispiel ist die Videoarbeit „Japanische Briefe“ (Eva  Brunner-Szabo, Wien 1995)

Das Video beginnt mit dem Portrait eines leidenschaftlichen Sammlers und Besitzers eines Cabinet d`amateur. Inmitten seines Privatmuseums voll von Gemälden, Fotografien, Exotika und Naturalia erzählt er über seine Liebe zum Schönen und zur Kunst. Als bei einem Rundumschwenk im Raum eine dicht behängte Fotowand sichtbar wird, wird der Blick zu einem bestimmten Bild geführt: Ein Mann in japanischem Ambiente betrachtet seinerseits eine Fotosammlung. Als die Kamera in eines dieser Fotos eindringt, beginnt im Off eine männliche Stimme Szenen aus einem Reisetagebuch vorzulesen. Es sind Texte des japanischen Arztes und Dichters Saito Mokichi, der sich 1922/23 in Wien aufhielt und seine Eindrücke in kurzen Essays festhielt. In ihnen macht sich schon eine Vorahnung von Krieg und Vernichtung bemerkbar. Im vorliegenden Ausschnitt gelangen wir über ein Foto von einem jüdischen Grabstein auf einen jüdischen Friedhof. Im Text geht es darum, wie Mokichi das jüdische Leben in Wien wahrnimmt. Plötzlich werden wir mit Aufnahmen aus dem Dritten Reich konfrontiert, Straßenszenen, Verfolgungen, Deportation, KZ. Die Einblendung eines großen Schriftzuges ins Bild verrät uns, worum es in dieser Sequenz geht: Verdrängung. Ein weiteres Foto, das der Universität Wien, führt uns zu einer neuen Geschichte unter einem neuen Stichwort: Xenophobie. Es geht um antisemitische Demonstrationen in den 20er Jahren. Mokichi beschreibt, wie ein nichts ahnender jüdischer Student verprügelt und verjagt wird und sich ein zunehmend bedrohliches Klima an den Universitäten entwickelt. In einer Bildmischung aus Demonstrations- und Kriegsaufnahmen tauchen Brustbilder und Namen bekannter antisemitischer Professoren auf, danach Bilder aus der Rassenlehre. Nasen-, Augen-, Kopfformen, Erbtabellen, Vermessungen, usw.

In diesem Video ist die Aufforderung zu einer dokumentarisch zu lesenden Realitätsvermittlung unter mehreren Schichten verborgen. Ein Schlüssel für das Verständnis der Konstruktion dieser Videoepistel ist der Titel „Japanische Briefe“. Er versteht sich als Paraphrase auf den Begriff „Persische Briefe“, einer Spielart zeitkritischer Literatur aus dem 18. Jahrhundert, in der unter dem Deckmantel von im Ausland verfassten Briefen die Verhältnisse im eigenen Land kritisiert wurden. Die Autoren bedienen sich derselben Methode, um in fünf konstruierten Kapiteln immer wieder begangene gesellschaftliche Verschulden mit assoziativ montiertem Dokumentarmaterial aufzuzeigen und zu benennen: Missbrauch, Krieg, Verdrängung, Xenophobie, Chimäre. Der thematische Bezug zu Mokichis Essays stellt dabei einen Kontext des „schon einmal Dagewesenen“ her. Die Rahmenhandlung der privaten Wunderkammer als Kuriositätensammlung betont einerseits das Ahistorische und Zeitlose von nur als exotische Codes zusammengestellten Gegenständen. Anderseits verweist das Video als multimediales Kunstkabinett auf die Möglichkeit, dass in jeder Bildersammlung Dokumente verborgen sein könnten, die entdeckt und verstanden, also in einen Realitätskontext gestellt werden können.

Was lassen sich nun aus diesen Beispielen für Schlüsse ziehen?

Was alle vorgestellten Arbeiten eint, ist die Einbindung der unverlässlichen Beziehung von Wirklichkeit und Abbildung in ihre inhaltliche Konzeption. Obwohl alle drei Beispiele irgendwie mit Wahrheit zu schaffen haben („Lubitsch junior“ ist auf der Suche nach der Wahrheit, „Paranormal“ relativiert die Frage nach der Wahrheit, „Japanische Briefe“ betreibt verdeckte Wahrheitsermittlung) betreiben sie ein Spiel mit Lüge, Verfälschung, Erfindung. Ihre Methoden: Vorspiegelung falscher Tatsachen, Verschleierung von Absichten, Segeln unter falscher Flagge. Trotzdem sind sie keine reinen Fiktionen. Mit dieser Mischung verweisen sie auf eine Medienrealität, die fließend, ohne nachprüfbaren Bezugspunkt aber durchaus voller Absicht ist. Damit kommen sie dem vielleicht schon nahe, was Wirklichkeitsabbildung und Medienrealität innerhalb eines computerisierten Informationsangebotes bedeuten könnte. Mit graduellen Unterschieden, da die ersten Beispiele noch so etwas wie einen Fluss der Erzählung aufweisen, es sich im letzten nur mehr um einen Pool an Ebenen handelt, auf denen nach Information gesucht werden kann. Angebote von Zusammenhängen werden gemacht, eine Garantie für ihre Gültigkeit gibt es aber nicht. Was daraus folgt ist, dass die Entscheidung über den Deckungsgrad mit Realität umso mehr eine Folge des (vorgeschlagenen aber auch selbst gewählten) Lektüremodus durch Zuschauerin/Zuschauer bzw. Nutzerin/Nutzer ist. Ebenso gilt der Begriff der Zeugenschaft mit all seinen Implikationen. Das Dokument im Computer ist ebenso wenig beglaubigt wie das im Dokumentarfilm.

(1) Roger Odin: Dokumentarischer Film – dokumentarisierende Lektüre, in: Christa Blümlinger (Hrsg.): Sprung im Spiegel, Wien 1990, S. 131.

(2) ebd. S. 141.